Montag, 7. Mai 2007

Die Idee von der Idylle

Shanghai im Sonnenuntergang: Schiff mit Drachenkopf-Galeonsfiguren vor dem Oriental Pearl Tower am Huangpu

Mein Chef hat mich mal gefragt, was ich mir im Vorfeld von Shanghai und China erwartet habe. Die Frage kam sehr plötzlich, ich war überrascht und mir fiel keine gescheite Antwort ein: Naja, ich hätte vieles nur vom Hörensagen gewusst, so ein paar Klischees und so, und dass ich halt versuchen würde, mir meist gar nichts vorzustellen, meinen Kopf frei und leer zu machen, um alles einfach aufzunehmen. Eine Idee hat sich allerdings in meinem Kopf festgesetzt.

Seitdem ich hier bin, wollte ich in den Yu-Garten gehen, DIE Sehenswürdigkeit Shanghais mit der schönen Parkanlage, dem Huxinting-Teehaus und den malerischen Gassen im alten Stil. Mein Reiseführer empfiehlt, entweder früh am Morgen oder am Spätnachmittag dort aufzutauchen, um den grossen Touristenmassen zu entgehen. Also gehe ich um halb vier aus dem Haus, nehme die U-Bahn und will den Rest des Weges zu Fuss bestreiten. Die ewig lange Strasse ist allerdings total bebaut, und als ich endlich ein Strassenschild entdecke, stelle ich fest, dass ich in die entgegengesetzte Richtung gelaufen bin. (Passiert mir irgendwie öfters. Vielleicht sollte ich auch von vornherein nicht die Richtung wählen, die ich eigentlich nehmen will, sondern die andere!)

ch überwinde meine Hemmungen wegen der Sprachbarriere, klopfe zaghaft an eine Taxitür und bin kurze Zeit und schlappe 12 Yuan (1,20 Euro) später an der Schwelle zum Yu-Garten. Spätnachmittag, was für ein Geheimtipp: Die grossen Massen schieben sich immer noch durch die Gegend. Erst denke ich, ja gut, wenn hier viele Touristen sind, dann falle ich wenigstens mal nicht so auf. Denn ich wünsche mir oft, dass ich mich unters Volk mischen könnte, doch aufgrund meines Aussehens bin ich immer sofort als Ausländerin enttarnt. Aber hier bin ich Gleiche unter Gleichen - eine blöde Touristin! Alle drei Schritte erschrecken mich Leute: "Hello! Hello, Lady! Watch your bags!"

Ist das eine Warnung vor Taschendieben? Oder eine dreiste Ankündigung des Diebstahls? Besorgt taste ich nach meinem Rucksack und bewege mich schneller. Irgendwann begreife ich, dass sie mir IHRE Taschen zeigen wollen (gefälschte Louis-Vuitton-Accessoires).

Hello! Hello Lady! Watch your China!

Die Quelle der Ruhe, die Oase in dem touristischen Treiben, der Yu-Garten - kostet 4 Euro Eintritt und der Ticket-Schalter ist schon geschlossen. Spätnachmittag. Prima Tipp. Bleibt mir noch das legendäre Teehaus: Der Weg dorthin führt über eine Zickzack-Brücke. Das soll vor bösen Geistern schützen, der Legende nach können diese nämlich nur geradeaus gehen.

Im Teehaus selbst ist es tatsächlich schön und ruhig, ich entspanne mich etwas. Natürlich wird mir zuerst die Teekanne für zehn Euro angepriesen, aber ich schlage die Karte hartnäckig weiter hinten auf und wähle einen dieser schönen Tees, in denen sich die Blüte langsam öffnet. Dazu werden Dim Sum (kleine Häppchen) serviert.


Doch draussen zurück soll sich die "Hello Lady" immer noch irgendwelche Taschen und auch Galerien (?) ansehen. Und in den malerischen Kulissen lauern auch Starbucks und McDonalds. Etwas enttäuscht von dieser Disneyland-Version made in China, will ich trotzdem noch einmal am frühen Morgen herkommen, um den Garten und den Stadtgott-Tempel zu sehen. Vielleicht habe ich zuviel erwartet, aber so schnell lasse ich mir die Idee von der Idylle nicht nehmen. Für heute erhoffe ich mir nicht mehr viel, doch dann belohnt mich der Abend doch noch: Der Spaziergang am sogenannten Bund, der Promenade entlang des Huangpu-Flusses, bietet eine Wahnsinns-Skyline und ein gemächliches Flaniertempo. Plötzlich werde ich von einem jungen Chinesen mit Kamera etwas zögerlich angesprochen: Ich nehme an, er will, dass ich ein Foto von ihm und seiner Mutter mache, aber nein, er will eins mit mir. In China sind Leute aus dem Westen oft selbst eine Attraktion, und je weiter man von der Grossstadt entfernt ist und je seltener jemand aus dem Ausland dorthin findet, desto mehr... Ich fühle mich für einen kurzen Moment nicht mehr wie ein blöder Tourist, sondern wie etwas Besonderes, und posiere stolz für das gemeinsame Foto. Und geniesse zum Abschluss den tollen Ausblick und die abendliche Stimmung auf dem Rückweg.

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