Hier ist man in einer anderen Welt: Je weiter man in den Garten vordringt, desto ruhiger und gelassener wird man. Anfangs schwirren noch die Worte der Fremdenführer an mein Ohr: Eine junge Chinesin erklärt den geneigten Zuhörern das Prinzip der chinesischen Gartenarchitektur. Die beiden wichtigsten Elemente seien Stein und Wasser, die sich ergänzen sollen wie Yin und Yang. Darum findet man in chinesischen Gärten immer Felsenanlagen und Steinbrücken, sowie viele Teiche.
Tatsächlich sehe ich recht wenige Blumen in dem Garten. In einer deutschen Anlage hätte ich bestimmt nach ein paar Schritten ein vollgestopftes Blumenbeet entdeckt. Wir legen bei unseren Gärten Wert auf Vielfalt und Farben, um uns daran zu erfreuen; die Chinesen konzentrieren sich auf die Komposition weniger Elemente. Wenn man an den Bildaufbau von westlichen Kunstwerken und chinesischen Tuschezeichnungen denkt, fällt einem auch dort die Üppigkeit gegenüber minimalistischer, konzentrierter Darstellungsweise auf.
Der Garten in China soll den Menschen zur Ruhe bringen und zum Wesentlichen zurückführen: Blumen würden das Konzept der Gleichmässigkeit vielleicht stören, weil sie zu sehr auffallen und den Betrachter vom Gesamtbild ablenken, ihn wieder mit Reizen überfluten.
Ein anderes interessantes Konzept sind die bekannten Holzverschläge für die Fenster, hölzerne, durchsichtige Paravents und in die Mauer eingefügte Holzschnitzereien. In Deutschland fänden wir derartiges Lückenwerk nicht grad effektiv: Da kann man ja durchgucken! In China soll dies aber zum Gesamtbild der Entspannung und des Gleitens beitragen: Ein Fenster mit flächigem Holzverschlag ist versperrt und wirft den Blick zurück, eine dichte Mauer und ein undurchsichtiger Paravent wirken massiv. Das Holz soll den Blick nicht ganz durchlassen, um ein bisschen den Eindruck von Privatsphäre und Geborgenheit zu vermitteln, aber auch nicht blockieren, um das Umherschweifen des Blickes nicht zu stören.
Der Garten im Garten: Kunstvolle Schnitzerei im Glasfenster in der Mauer
Dieser Vorgabe entsprechend sind nur die Aussenwände wirklich fest und ohne Fenster, um den Garten von der Aussenwelt abzugrenzen. Die Schnitzereien und Statuen bilden anstelle von Blumen den Schmuck: Drachenköpfe an den Mauergrenzen der verschiedenen Bereiche und die bekannten kleinen Löwen vor jedem Tor.
Diese Wachhunde in spe deuten auf die Macht des Bewohners hin. Je mehr Locken der Löwe vor dem Tor hat, desto mächtiger und wichtiger ist der Besitzer. Es gibt immer zwei, einen weiblichen und einen männlichen Löwen. Die Löwin hat ein Kind unter der Pfote, der Löwe hingegen immer einen Ball (ein Symbol für die Welt in der Hand oder den Spieltrieb?).
Wie die Sphingen aus der Unendlichen Geschichte: Löwen vor dem Tor zum ersten Gartenteil
In den hölzernen Pavillons verbirgt sich Unterschiedliches: Stätten mit historischen Requisiten, ein Antiquitätengeschäft, eine Kalligraphie-Austellung... und in einer luftigen Gartenlaube hat eine chinesische Familie Bier und Häppchen zum Picknick ausgebreitet. Selbst das Theater mit dem Glockenspiel, im Gegensatz zum Garten Ende des 19. Jahrhunderts erbaut, strahlt Ruhe und Gelassenheit aus - sollte an einem Ort wie diesem Lampenfieber und frenetischer Beifall möglich sein? Es hat die Atmosphäre des Gartens aufgesogen - so wie alle seine Besucher.
Anfangs stürmen die Touristen aufgeregt den Eingangsbereich, erobern mit schnellen Schritten das erste Terrain und fuchteln wild mit der Kamera. Dann werden auch sie von der Ausstrahlung des Gartens eingefangen: Die Körperhaltung wird entspannter, der Gang gleichmässiger, man setzt sich auf eine Bank unter den schattigen Bäumen oder in einen der kleinen Pavillons und macht mal hier, mal da ein Foto, wie es grad so kommt. Die Welt dreht sich ein wenig langsamer, man spürt den eigenen Atem wieder.Auch von mir fällt alles ab. Ich bin selten eins mit meiner Umgebung, immer sind es die Umgebung - und ich; zwei voneinander getrennte Elemente. Doch hier, wo alle Elemente sich ergänzen und zu einer Einheit werden, füge auch ich mich hinein. Denn so sorgfältig der chinesische Garten für sich, in sich allein geplant ist, so ist er keine Perfektion, die unberührbar bleiben soll. Diesen Garten kann man nicht einfach bloss anschauen, denn er nimmt seine Besucher auf. So vergesse ich für ein paar Stunden die laute, quirlige Welt auf der anderen Seite der Mauer und werde Teil eines chinesischen Gartens.